Sonntag, Juni 06, 2004

Wahrheit?

Der Meister hatte ihn noch nie so heftig reden hören. Er ging eine Strecke weiter, dann sagte er: "Es gibt die Wahrheit, mein Lieber! Aber die ´Lehre´, die du begehrst, die absolute, vollkommen und allein weise machende, die gibt es nicht. Du sollst dich auch gar nicht nach einer vollkommenen Lehre sehnen, Freund, sondern nach Vervollkommnung deiner selbst. Die Gottheit ist in dir, nicht in den Begriffen und Büchern. Die Wahrheit wird gelebt, nicht doziert. Mach dich auf Kämpfe gefasst, Josef Knecht, ich sehe wohl, sie haben schon begonnen."

(aus: H. Hesse - Das Glasperlenspiel)

Nun auch ahnte Siddhartha, warum er als Brahmane, als Büßer vergeblich mit diesem Ich gekämpft hatte. Zu viel Wissen hatte ihn gehindert, zu viele heilige Verse, zu viele Opferregeln, zu viele Kasteiungen, zu viel Tun und Streben! Voll Hochmut war er gewesen, immer der Klügste, immer der Eifrigste, immer allen um einen Schritt voran, immer der Wissende und Geistige, immer der Priester oder Weise. In dies Priestertum, in diesen Hochmut, in diese Geistigkeit hinein hatte sein Ich sich verkrochen, dort saß es fest und wuchs, während er es mit Fasten und Büßen zu töten meinte. Nun sah er es, dass die heimliche Stimme recht gehabt hatte, dass kein Lehrer ihn je hätte erlösen können. Darum hatte er in die Welt gehen müssen, sich an Lust und Macht, an Weib und Geld verlieren müssen, hatte ein Händler, ein Würfelspieler, Trinker und Habgieriger werden müssen, bis der Priester und Samana in ihm tot war. Darum hatte er weiter diese hässlichen Jahre ertragen müssen, den Ekel ertragen, die Leere, die Sinnlosigkeit eines öden und verlorenen Lebens, bis zum Ende, bis zur bitteren Verzweiflung, bis auch der Lüstling Siddhartha, der Habgierige Siddhartha sterben konnte. Er war gestorben, ein neuer Siddhartha war aus dem Schlaf erwacht. Auch er würde alt werden, auch er würde einst sterben müssen, vergänglich war Siddhartha, vergänglich wie jede Gestaltung. Heute aber war er jung, war ein Kind, der neue Siddhartha, und er war voll Freude.

(...)

Er weiß alles, der Fluss, alles kann man von ihm lernen.

(Aus: H. Hesse - Siddhartha. Eine indische Dichtung)

Denn bei vielen Träumen und Worten sind auch viele Eitelkeiten.

(Aus: Der Prediger 5, Vers 7)

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